3.4. Szenario Berlin
Ein derartig komplexes Gebilde wie Berlin nach der Maßgabe von Heliogaia zu entwickeln, ist eine besondere Herausforderung.
Gegliedertes Vorgehen wäre daher gut denkbar: Stadtteile ab etwa 10.000 Einwohnern könnten ein eigenes System betreiben. Die Speicherverluste lägen dann um die 20% und würden erst mit steigenden Anschließerzahlen weiter verringert. Man müsste über Möglichkeiten einer modularen Speicher- und Netzerweiterung nachdenken.
Die vorliegende Modellrechnung nimmt die Stadt als Einheit.
In Berlin leben 3,6 Millionen Einwohner in 605.000 Gebäuden auf 892 km² Fläche, wobei die reinen Siedlungsgebiete ungefähr 630 km² umfassen. Der Wärmeverbrauch wird mit durchschnittlich 80 kWh/a/m² als gut erreichbares Sanierungsziel angenommen.
Es ist daran gedacht worden, einen Teil der in einigen hundert Metern Tiefe liegenden, durch Grundwassernichtleiter eingeschlossenen Salzwasserschicht als einen großen Saisonspeicher zu definieren und zu nutzen. Man muss dann eine sehr große Anzahl Tiefbohrungen durch mehrere Grundwasserstockwerke hindurch in dieses Niveau bringen, um den gesamten Berliner Wärmebedarf ein- und auszuladen. Dabei darf das Wasser der verschiedenen Stockwerke nicht vermischt werden, ansonsten ist das Trinkwasser in Gefahr. Wenn sich auch jemand fände, der dauerhaft 100%-ige Dichtheit verspricht, so wäre das schon aus diesem Grunde nicht besonders vertrauenswürdig. Die Variante erscheint unverantwortbar und sollte nicht weiter verfolgt werden.
Ein Problem für alle Ballungsräume ist der recht große Platzbedarf, nicht vereinbar mit hohen Grundstückspreisen. Daher sollten der Saisonspeicher am Stadtrand und möglichst viele Kollektoren an den Gebäuden untergebracht werden. Das Netz ist dann in beiden Richtungen zu betreiben und eine ausgeklügelte Führung der Wärmeströme Voraussetzung für den Erfolg.
Anders als bisher üblich, bekommt jede Dach- bzw. Fassadenanlage die komplette verfügbare Fläche Röhrenkollektoren und einen lokalen Speicher (etwa 570 Liter pro Kopf) zur Aufnahme des Tagesertrags. Sie arbeitet primär autonom, anschließend im Netzverbund. Bei dieser Dimensionierung kann schon ein großer Teil der Versorgung direkt am Gebäude geleistet werden (46%).
Zu den einzelnen Komponenten der Anlage:
1. Kollektoren:
Einige Studien zur Erforschung des Berliner Solarflächenpotentials liegen vor, allerdings hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Eignung für PV-Anlagen. [93] u.a.
Ein eigener Überschlag über Dach- und Fassadenflächen führte zu einem noch höheren Potential von 20 m²/Kopf:
Fensterlose Seiten- bzw. Giebelflächen, Balkonbrüstungen, Zwischengeschoss- Fassadenflächen, ca. 50 cm schmale, fast waagerechte Sonnenschutzvorsätze als Streifen über den Fensterreihen ..., alles kann neben den Dachflächen unter Berücksichtigung architektonischer Gesichtspunkte mit farbigen Flachkollektoren, aber vorrangig mit Röhrenkollektoren besetzt werden.
Wo das Wärmeziel trotzdem erreicht wird, sind auch Kombikollektoren für zusätzliche Elektrizitätserzeugung eine Option.
Hier nicht berücksichtigt wurden Barriere- und Böschungsflächen entlang mancher Bahn-, Straßen- und Gewässerverläufe, Energiezäune, Überdachungen von Verkehrsflächen, z.B. Radwegen und Parkplätzen ...
Orientieren sich geneigte oder vertikale Flächen in den südlichen Halbkreis, sind sie verwertbar, also etwa die Hälfte. Im Sommer bei einer mittäglichen Sonnenhöhe um 55 ... 60° sind die meisten davon auch nicht oder nur gering verschattet.
Dachflächen:
Berlin hat 605.000 Gebäude mit einer gesamten (in die Horizontale projizierten) Dachfläche von 106 Millionen m², 60% sind Flachdächer [93] S.7: 106*0,6+106*0,4*0,5 sind 84,8 Millionen m².
Geht man davon aus, dass 30% davon aus verschiedenen Gründen nicht nutzbar sind, ergeben sich 59 Millionen m² belegbare Dachfläche.
Fassaden:
605.000 Gebäude mit einer gesamten Grundfläche von 103 Millionen m² :
Nimmt man quadratische Grundrisse und dadurch minimale Fassadenflächen an, ergeben sich pro Gebäude (103.000.000/605.000) 170 m² Grundfläche, 52m Umfang und mit einer durchschnittlichen Geschosszahl von 2,65 [Tabelle] bei 2,7 m Geschosshöhe eine Fassadenfläche von mindestens 52m*2,65*2,7m=372m² .
Südhalbkreis: 50%, Eignung: 20%, geringe Verschattung: 60%;
372m² *0,5*0,2*0,6=22 m² geeignete Fassadenfläche pro Gebäude, insgesamt 13 Millionen m² .
Ohne die genannten anderen Möglichkeiten wären demnach rund 72 Millionen m² Fläche allein an Berliner Gebäuden verfügbar. Pro Einwohner wären das rund 20 m² .
Wir lehnen uns nicht weit aus dem Fenster und rechnen im Szenario mit der 2008 durch [30], S. 6 ermittelten Zahl von 13,78m²/Kopf. Alle weiter benötigten Kollektoren (3,5m²/Kopf) werden über dem Saisonspeicher und/oder am Stadtrand in dessen Nähe auf freiem Feld installiert. Das ist für die Endbeladung auf 80°C ohnehin zu einem gewissen Teil nötig. Wegen der hohen Temperaturen und aus Platzgründen wird in diesem Szenario ausschließlich mit Röhrenkollektoren gerechnet.
2. Saisonspeicher:
Wegen des Grundwasserschutzes und der besseren Beschickbarkeit im offenen Kreislauf soll der Erdspeicher auf dem ersten Grundwassernichtleiter (ohne Standortkenntnisse, angenommen in 140 m Tiefe) aufsitzen, also möglichst nur das oberste, auch gut durchlässige Grundwasserstockwerk einbeziehen. Das führt bei der geforderten Speichermasse zu erheblicher flächiger Ausdehnung. Der Durchmesser ist gegenüber der Tiefe um ein vielfaches größer. Die Modellberechnungen ergaben wegen der riesigen absoluten Größe dennoch vertretbare Verluste von nur 7%. Auf die umgebende Dichtwand kann möglicherweise verzichtet werden, wenn man den Speicher an einem Ort mit geringem Grundwasserfluss einrichtet. In der durchgeführten Modellrechnung ist der 140m tiefe Speicher auf einer runden Fläche von 2100 m Durchmesser mit 2m trockenem, sandigem Füllboden zwischen zwei Folien abgedeckt, darüber normaler Füll- oder Mutterboden, leicht bebaut.
3. Fernwärmenetz:
In Ballungsgebieten können die Haupttrassen der Netze auch Längen in der Größenordnung von 100 km überbrücken, wenn sie entsprechend große Mengen an Warmwasser in sehr großen Durchmessern mit nicht zu geringer Geschwindigkeit leiten. Für Berlin eignen sich beispielsweise fünf 25 km lange Doppelleitungen (zwei Rohre zu je 2m Durchmesser) vom Rand in die Stadt hinein bis zu den Verteilerzentren. Pumpleistungen liegen bei wenigen Watt pro Kopf, die Verluste unter 1% (Tabelle waermeverlust_hauptverteilung_im_jahr002.html). Jeder Knotenpunkt bekommt sein Heizkraftwerk oder einige Groß-Wärmepumpen, versorgt aus der Herabkühlung des Rücklaufes.
Die Unterverteilung muss dann in mühsamer Kleinarbeit zwischen allen anderen Medien hindurch von Haus zu Haus gebaut und angeschlossen werden. Gerade für Berlin sei noch einmal erwähnt, dass es hier sinnvoll scheint, alle bereits vorhandenen Systeme mit einem begehbaren Tunnelnetz zu unterwandern, in welchem die Fernheizleitungen und nach und nach auch sämtliche anderen Medien jederzeit zugänglich und übersichtlich Platz fänden. Andauernde und teuere Straßenbaustellen würden großenteils verschwinden - eine sicher für die Stadt und andere Netzbetreiber langfristig interessante Investition, die gleichwohl in dieser Kalkulation nicht berücksichtigt werden kann.
Die Zahlen für die Unterverteilung wurden zur Aufwandsbegrenzung aus der Modellrechnung Cottbus übernommen und proportional angepasst.
Auswertung:
Nach vollständiger energetischer Sanierung der Gebäude beträgt der Elektroenergieeinsatz 3,4%, die Kosten monatlich knapp 49 Euro/Kopf, ohne Berücksichtigung von eventuellen Darlehenszinsen oder Fördergeldern. Das ist weniger als in Deutschland die letzten Jahre monatlich zur Beheizung ausgegeben werden musste, bundes- durchschnittlich 65,4 Euro/Kopf (ohne CO2-Steuer). Als Durchschnittswert zeigt diese Zahl nicht die Kosten im Einzelfall, die immer auch sehr von der Gebäudesituation abhängen. Man kann sie auch nicht zum Vergleich in die üblichen Angaben von €/kWh für verschiedene Energieträgerarten umrechnen, weil da weder die Kosten für Heizungsanlagen noch CO2-Steuern enthalten sind.
Hauptanteile der Kosten:
Fernwärmenetz mit Pumpen und Hausanschlüssen: 13%
Kollektoren und deren Aufstellung: 43%
Baunebenkosten: 20%
Das sind zugleich die wichtigsten Ansätze zur Kostensenkung. Die Mehrwertsteuer sollte bei der Brisanz des Themas ins Auge gefasst werden, alle Ausgangszahlen sind Bruttopreise.
Der Saisonspeicher ist mit allen Bohrungen, Schlitzwänden, Abdeckungen und Pufferspeichern mit weniger als 1% an den Aufwendungen beteiligt.
In der Übergangsperiode, solange der Wert von 5.168 kWh/a/Kopf noch nicht durchgängig erreicht ist, werden 10.600 kWh/a/Kopf zugrunde gelegt, der Bundesdurchschnitt für den Verbrauch von Wärme im Temperaturbereich unter 100°C. Für die Lücke müssen die dritte Fernwärmeleitung mit >60°C und die Heizkraftwerke mit insgesamt 6,6 GW elektrischer Leistung eingerichtet werden. Hierfür sind vergleichsweise geringe zusätzliche Investitionen (+5%) aber durch den Brennstoffverbrauch höhere laufende Kosten anhängig. Mit allem anderen zusammen ergeben sich monatlich 76 Euro/Kopf, bei einem schon eingepreisten Fremdenergieeinsatz von 56%. Die Haltbarkeit der Komponenten wurde berücksichtigt und ihre Wartung mit 160€ pro Jahr und Haushalt eingeplant.
Die Start-Investition für die Gesamtanlage Berlin beläuft sich auf 52 Milliarden Euro.
(Diese Summe wird im Laufe der Abschreibungszeit durch den oben genannten Monatsbeitrag der Abnehmer getilgt.)
Abbildung 1 zeigt die zu erwartenden Größenbeziehungen und Ausmaße ohne Beachtung geologischer Gegebenheiten oder der Eigentumsverhältnisse, also nur für eine erste optische Orientierung. Die wirkliche Flächenzuordnung obliegt dem Planer und letztlich dem Bürgerentscheid. 80% aller Kollektoren befinden sich auf und an den Gebäuden der Stadt. Das dargestellte Kollektorfeld umfasst die Bruttofläche der zusätzlich extern aufgestellten Kollektoren mit allen zur Montage, Wartung und Verschattungsverhinderung nötigen Rändern und Zwischenräumen. Zwei Drittel davon sind nicht von Kollektoren überdeckt und sollen weiterhin in bestimmtem Maße landwirtschaftlich genutzt werden. Die 1km langen roten Streifen in den Ecken des Bildes dienen dem Größenvergleich.

Bild 1: Berlin mit Saisonspeicher (orange) und ergänzendem Kollektorfeld (blaugrün)
Maßstab rot: 1km
(Klick auf Bild zum Vergrößern)
Zugehörige Tabellen in html-Format:
Tabelle jahreslauf_berlin.html simuliert im ersten Blatt "e" aus rechts eingegebenen Parametern eine zweijährige Wärmebilanz einschließlich des Ladeverhaltens des Saisonspeichers für ganz Berlin, pro Person, in Tagesschritten.
Hat man sich durch alle 731 Tage gescrollt, erscheint Blatt "t" und berechnet dazu aus weiteren Parametern und Eingabegrößen das Gesamtergebnis.
Tabelle 0_waermeverlust_hauptverteilung_im_jahr002.html zeigt gesondert die Verluste auf Haupverteilungstrassen.
Tabelle 0_zahlen_energierelevant_BERLIN_BRD.html zeigt die aus den Recherchen gesammelten Grunddaten samt Quellen.
Tabellen zum Rechnen in weiteren Formaten hier.
--->home
--->weiter